Eine helle, große Sporthalle in Münster, ein großer Kreis aus Turnbänken, 60 Karateka sitzen eng an eng, es liegt Konzentration in der Luft. Ihre Aufmerksamkeit gilt Hanshi Uli Heckhuis, 9. Dan, der über kämpferisches Verhalten referiert.
Uli führt die Gruppe durch bekannte Trainingssituationen, in denen es die individuelle Entscheidung jedes Karateka braucht, um von einer reinen Koordinationsübung in ein Trainieren der kämpferischen Fähigkeiten zu gelangen. „In den festgelegten Partnerformen verlieren die Beteiligten nach dem letzten Schlag häufig sofort ihre Körperspannung. Der Kampf ist ja vorbei. Dann kann man sich entspannen“, so Uli. „Im realen Leben ist das aber nicht so. Man muss die Aufmerksamkeit, das Zanshin hochhalten, denn im Zweifel gibt es nicht nur einen Angreifer sondern gleich mehrere.“ Ist die innere Entspannung erstmal da, dann ist es umso schwieriger, blitzschnell wieder in den Verteidigungs- und Angriffsmodus zu schalten.
Im etwa einstündigen Mondo (japanisch: Lehrgespräch) lenkt er die Braungurte, Danträgerinnen und Danträger durch bekannte Partnerübungen, zeigt Fehlerquellen auf, die in den Prüfungen immer wieder vorkommen und teilt seine Beobachtungen. „Viele Karateka schlagen im Stand. Sind in sehr enger Distanz. Man muss aber in Bewegung bleiben, das funktioniert nicht, wenn ich mit dem ganzen Fuß aufsetze“, erklärt Uli. Ob das nicht eher nur etwas fürs sportliche Kumite sei? Nein, denn besonders in der kurzen Distanz der Selbstverteidigung muss man in der Lage sein, seine Position zum Angreifer schnell zu wechseln, so Heckhuis.
Er fordert die Anwesenden auf, in ihren Vereinen dieses Grundverständnis zu schaffen: Beginnend im Kihon sollten die Karateka lernen, das Zanshin zu bewahren, die Aufmerksamkeit und Wachheit hochzuhalten. Das Geübte wird dann in die festgelegten Partnerübungen übertragen und erleichtert den Transfer in freie Selbstverteidigung und sportliches Kumite. Eine hohe Beweglichkeit am Partner bzw. am Angreifer sowie ein gutes Erfahrungswissen um Kampfdistanzen sind weitere wichtige Entwicklungsziele.
Kyoshi Jürgen Kestner 8. Dan im Karate und in weiteren Kampfkünsten graduiert, schließt sich Ulis Vortrag an. Sein Erfahrungsschatz als Ausbilder bei der Polizei ermöglicht es ihm, seine Selbstverteidigungslehrgänge regelmäßig an typische Angriffsmuster anzupassen, die in der Realität „draußen“ häufig vorkommen. Gerade wenn mehrere Personen angreifen, ist es wichtig, mit geschärften Sinnen zu agieren. Doch wenn das nicht eingeübt ist, hat man kaum eine Chance zu bestehen.
Im Karate-System sind wir bestrebt, unsere Techniken so zu verfeinern, dass eine einzige ausreicht, um den Kampf zu entscheiden. In vielen tätlichen Auseinandersetzungen ist es jedoch oft nicht der Fall, dass die Verteidigenden ihre Angreifer optimal treffen, erläutert Jürgen. Sie benötigen mehrere Techniken und werden währenddessen womöglich weiter attackiert. Die Situation ist oft hochdynamisch.
Jürgen möchte die Teilnehmerinnen und Teilnehmer im Praxisteil auf diese realen Umstände vorbereiten. Schritt für Schritt führt er durch verschiedene Szenarien und arbeitet mit der Gruppe wichtige Aspekte heraus: Deckungsarbeit, Schlagsequenzen, Distanz- und Positionswechsel, den Überblick behalten, unter Stress handlungsfähig bleiben und das Lösen vom Angreifer.
Immer wieder bezieht sich Jürgen auf die Schwerpunkte aus dem Mondo, die Uli betont hatte. „Wir müssen uns von dem Ippon-Gedanken, den wir vielerorts im Karate antreffen, verabschieden,“ fordert Jürgen. „Das Training sollte darauf ausgerichtet sein, dass es mehrerer Techniken bedarf, um den Angreifer zu überwinden.“
Jürgen übt mit der Gruppe spezifische Aufgabenstellungen. Mal attackieren die Angreifer permanent aus wechselnden Richtungen, ein anderes Mal sehen sich die Verteidigerinnen und Verteidiger gegen eine Wand geschubst und von einer Serie Pratzenhiebe überzogen.
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer merken schnell, dass in der Hitze des Gefechts leicht Fehler passieren, die im Ernstfall gefährliche Auswirkungen haben können: Ein guter Konter – doch wo bleibt die Deckung? Gut abgewehrt – aber stehen geblieben? Den Angreifer im Fokus – doch nach dem Lösen vergessen, die Umgebung zu prüfen?
Immer wieder fordert Jürgen Karateka auf, die Übungen vorzumachen und weist auf die wichtigen Eckpfeiler und Aspekte der Ausführung hin.
Bereits zum vierten Mal sind die beiden Kampfkunst-Experten zu Gast in Münster und hier sind sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer einig, dass es sich definitiv lohnt, dabei zu sein: „Die Stimmung hier ist immer mega konstruktiv und freundlich, und man kann immer richtig gute Inhalte mitnehmen“, freut sich ein Lehrgangs-Gast.
Uli und Jürgen erinnern in diesem Lehrgang eindrücklich daran , dass Karate dafür entwickelt wurde, tätliche Angriffe heil zu überstehen. Entsprechend fordern sie dazu auf, jede Technik und jede Partnerform, die wir im Training praktizieren, in diesem Kontext eingebettet zu betrachten. Auch wenn wir Teilaspekte oder einzelne Techniken verfeinern, sollen sie so geübt werden, dass sie stets als Teil eines dynamischen Kampfes wirksam angewendet werden können. Die technischen Schwerpunkte dafür haben Uli und Jürgen den Teilnehmerinnen und Teilnehmern mit auf den Weg gegeben.
Text: J. Niemann, S. Laumann